Morelli verschwindet
Peter Neitzke
„Du musst den Antiroman schreiben, ohne jede geschlossene Ordnung. Musst deine Leser zu Komplizen machen. Ihnen so etwas wie eine Fassade mit Türen und Fenstern geben, nicht mehr.“
„Und was machen deine Komplizen, wenn du sie zu wahren Komplizen gemacht hast?“
„Sie werden hinter der Fassade mit Türen und Fenstern eine Welt aus Ruinen entdecken. Und jubilieren.“
„Die Fassade ist die Konvention. Deine Ruinen sind nicht die Ruinen der Erzählform, das interessiert nur Theoretiker, sondern die Ruinen deiner Gegenwart.“
Sich aus dem Staub machen. Frantz Morelli stürzt seine Matratze aus dem Fenster, zusammen mit Bündeln alter Manuskripte: biographische Skizzen, Wutausbrüche, Verwünschungen. Wer, fragt er, schüttet Treibstoff in die Watte, mit der die Wortführer auf der anderen Seite sich umgeben? Wer zündet sie an? Wer sorgt dafür, daß sie verschwinden?
Ungeschrieben bleibt die Autobiographie, für die ihm ein gewisser Gregor Hellmann, ein Barpianist, dreitausend als Anzahlung bezahlt hat. Ungeschrieben, denn Morelli ist nicht mehr erreichbar. Hellmann klappert die Adressen ab, die ihm der betrügerische Ghostwriter in Form eines bis auf Einträge unter dem Buchstaben K ruinierten Telefonregisters hinterließ – Kaminski, Krohn, Kugelmann, Knallhardt, Korn, Klostermann, Krämer, Kálmán –, und hört sich Geschichten an, aus denen sich das Porträt eines Aufschneiders und Phantasten zusammensetzen ließe. Aber Morellis derzeitige Adresse? Fehlanzeige.
Der unauffindbare Ghostwriter Morelli liefert nicht, sorgt aber dafür, daß der getäuschte Auftraggeber die Qualitäten eines freundlichen Geistes zu schätzen weiß. Dieser qualifiziert sich nicht nur als ferner Zauberer, sondern erweist sich als subtiler Kenner der Löschtaste. Alles bloß phantasiert?